Leben und Wirken eines literarischen Ausnahmetalents
Porträtfotografie des bekannten Schriftstellers Erich Kästner, um 1964. Bildnachweis: Deutsches Historisches Museum; Inventarnr. F 67/924
Erich Kästner wurde am 23. Februar 1899 in Dresden geboren. Als Sohn der späteren Friseurin Ida Kästner (1871-1951) und des Sattlermeisters Emil Richard Kästner (1867-1957) wuchs er in einfachen Verhältnissen auf. Besonders zu seiner Mutter pflegte er zeitlebens eine außergewöhnlich enge Beziehung – mehr als 30 Jahre lang schrieben sie sich fast täglich Briefe.
Nach dem Besuch der Volksschule in Dresden trat Kästner 1913 in das Freiherrlich von Fletscher’sche Lehrer-Seminar ein. Seine Ausbildung wurde jedoch durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen. 1917 wurde er zum Militärdienst eingezogen und kehrte mit einem schweren Herzleiden zurück – eine Erfahrung, die seinen lebenslangen Antimilitarismus prägte.
Dresden um 1900 – die Stadt, in der Erich Kästner seine Kindheit und Jugend verbrachte.
Nach dem Krieg schloss Kästner seine Ausbildung ab und bestand 1919 das Abitur mit Auszeichnung. Er erhielt das Goldene Stipendium der Stadt Dresden und begann ein Studium in Leipzig mit den Fächern Germanistik, Geschichte, Philosophie und Theatergeschichte. Später studierte er auch in Rostock und Berlin. Neben dem Studium arbeitete er ab 1922 bei der «Neuen Leipziger Zeitung».
1925 promovierte Kästner zum Dr. phil mit einer Arbeit über Friedrich den Großen. Zwei Jahre später wurde er aufgrund der Veröffentlichung eines als anstößig empfundenen Gedichts von der «Neuen Leipziger Zeitung» entlassen. Daraufhin zog er nach Berlin, wo er als Theaterkritiker und freier Mitarbeiter bei verschiedenen Zeitungen arbeitete, darunter bei der pazifistischen «Weltbühne».
Literarischer Durchbruch und Zeit des Nationalsozialismus
Ab 1928 veröffentlichte Kästner seine ersten Gedichtbände: «Herz auf Taille» (1928) und «Lärm im Spiegel» (1929). Daneben schrieb er zeitkritische, politisch-satirische Gedichte und Texte für das Kabarett. Seinen großen Durchbruch erlebte er jedoch mit seinen Kinderromanen, beginnend mit «Emil und die Detektive» (1929), gefolgt von «Pünktchen und Anton» (1931), «Der 35. Mai» (1932) und «Das fliegende Klassenzimmer» (1933).
Buchcover von «Emil und die Detektive» mit den charakteristischen Illustrationen von Walter Trier.
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 begann für Kästner eine schwierige Zeit. Seine Bücher wurden verboten und bei der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 vernichtet. Betroffen waren die Gedichtbände «Herz auf Taille», «Ein Mann gibt Auskunft» und «Gesang zwischen den Stühlen» sowie sein satirischer Roman «Fabian». In diesen Werken hatte sich Kästner mit treffsicherem Witz gegen spießbürgerliche Moral, Militarismus und Faschismus gewandt.
Kästner wurde mehrfach von der Gestapo verhaftet, aber immer wieder freigelassen. Trotz des Publikationsverbots und der Repressalien entschied er sich gegen die Emigration. 1942 erhielt er ein totales Schreibverbot, schrieb jedoch unter Pseudonym das Drehbuch für den UFA-Jubiläumsfilm «Münchhausen». Seine Romane «Drei Männer im Schnee» (1934) und «Georg und die Zwischenfälle» (1938) konnten nur im Ausland veröffentlicht werden.
«Ich bin ein Deutscher aus Dresden in Sachsen. Mich läßt die Heimat nicht fort. Ich bin wie ein Baum, der – in Deutschland gewachsen – wenn’s sein muss, in Deutschland verdorrt.»
Nachkriegszeit und späte Jahre
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zog Kästner nach München. Im Herbst 1945 begann er beim Kabarett «Die Schaubude» mitzuarbeiten und wurde leitender Redakteur des Feuilletons der «Neuen Zeitung». 1946 gab er die Zeitschrift «Pinguin. Für junge Leute» heraus und veröffentlichte die Gedichtauswahl «Bei Durchsicht meiner Bücher», sein erstes Buch nach Kriegsende.
Erich Kästner in seinem Arbeitszimmer in München, wo er nach dem Krieg lebte und arbeitete.
In den Nachkriegsjahren entstanden weitere bedeutende Werke wie «Das doppelte Lottchen» und «Die Konferenz der Tiere» (beide 1949). Von 1951 bis 1962 war Kästner Präsident des Westdeutschen PEN-Zentrums. 1957 wurde er mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet, und 1959 erhielt er das Große Bundesverdienstkreuz.
In seinen späten Jahren veröffentlichte Kästner unter anderem «Notabene 45: Ein Tagebuch» (1961), basierend auf seinen Aufzeichnungen aus der Zeit von März bis August 1945, und den Kinderroman «Der kleine Mann» (1963). 1970 wurde er mit dem kulturellen Ehrenpreis der Stadt München geehrt.
Am 29. Juli 1974 starb Erich Kästner im Alter von 75 Jahren in München. Sein literarisches Erbe lebt bis heute fort – in zahlreichen Neuauflagen seiner Bücher, Verfilmungen und der ungebrochenen Begeisterung neuer Lesergenerationen für seine Werke.
Fünf weniger bekannte Fakten über Erich Kästner
Wussten Sie schon?
- Zeuge der eigenen Bücherverbrennung: Kästner war einer der wenigen Autoren, die bei der Verbrennung ihrer eigenen Bücher durch die Nationalsozialisten am 10. Mai 1933 persönlich anwesend waren. Er stand in der Menge und beobachtete das Geschehen.
- Drehbuchautor unter Pseudonym: Trotz Publikationsverbot schrieb Kästner unter dem Pseudonym «Berthold Bürger» das Drehbuch für den aufwändigen UFA-Film «Münchhausen» (1943) mit Hans Albers in der Hauptrolle.
- Tägliche Briefe an die Mutter: Über 30 Jahre lang schrieb Kästner fast täglich Briefe oder Postkarten an seine Mutter Ida, selbst wenn sie nur wenige Kilometer voneinander entfernt wohnten.
- Geheimes Kriegstagebuch: Während der NS-Zeit führte Kästner ein geheimes Tagebuch in Gabelsberger Kurzschrift, das er bei Bombenalarm stets mit in den Luftschutzkeller nahm. Es wurde erst 2018 unter dem Titel «Das Blaue Buch» veröffentlicht.
- Inspiration für «Das doppelte Lottchen»: Seine langjährige Lebensgefährtin Luiselotte Enderle (1908-1991) diente als Vorbild für die Mutter «Luiselotte» der Zwillinge in «Das doppelte Lottchen».
Die wichtigsten Werke Erich Kästners
Erich Kästners literarisches Schaffen umfasst Kinderbücher, Romane, Gedichte, Drehbücher und Kabaretttexte. Seine Werke zeichnen sich durch klare Sprache, scharfe Beobachtungsgabe und einen unverwechselbaren Humor aus. Hier sind einige seiner bedeutendsten Werke:
Emil und die Detektive (1929)
Kästners erster und wohl bekanntester Kinderroman erzählt die Geschichte des zwölfjährigen Emil Tischbein, der auf einer Reise nach Berlin bestohlen wird und mit Hilfe einer Gruppe Berliner Kinder den Dieb jagt. Das Buch wurde in 24 Sprachen übersetzt und mehrfach verfilmt.
«Eine Geschichte, ein Roman, ein Märchen – diese Dinge gleichen den Lebewesen, und vielleicht sind es sogar welche.» – aus «Emil und die Detektive»
Das doppelte Lottchen (1949)
Die Geschichte der eineiigen Zwillinge Luise und Lotte, die bei getrennten Elternteilen aufwachsen, sich zufällig in einem Ferienheim kennenlernen und beschließen, die Rollen zu tauschen. Ein zeitloser Klassiker über Familie, Identität und Zusammenhalt, der mehrfach verfilmt wurde.
Dieses Werk war für seine Zeit bemerkenswert progressiv, da es Themen wie Scheidung und alleinerziehende, berufstätige Mütter behandelte.
Fabian (1931)
Kästners bedeutendster Roman für Erwachsene trägt den Untertitel «Die Geschichte eines Moralisten» und zeichnet ein schonungsloses Bild der späten Weimarer Republik. Der Protagonist Jakob Fabian erlebt den moralischen Verfall im Berlin der frühen 1930er Jahre. Das Buch wurde von den Nationalsozialisten verboten und verbrannt.
2013 erschien die ungekürzte Originalfassung unter dem Titel «Der Gang vor die Hunde».
Das fliegende Klassenzimmer (1933)
Dieser Kinderroman spielt in einem Internat und erzählt von der Freundschaft zwischen fünf Jungen, ihren Abenteuern und dem Konflikt mit einer rivalisierenden Schule. Das Buch thematisiert Werte wie Freundschaft, Mut und Zusammenhalt und wurde mehrfach erfolgreich verfilmt.
«Wie kann ein Erwachsener seine Jugend nur so vollkommen vergessen, dass er eines Tages überhaupt nicht mehr weiß, wie traurig und unglücklich Kinder bisweilen sein können.» – aus «Das fliegende Klassenzimmer»
Pünktchen und Anton (1931)
Die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft zwischen dem wohlhabenden Mädchen Luise (genannt Pünktchen) und dem armen Jungen Anton, der allein mit seiner kranken Mutter lebt. Der Roman thematisiert soziale Unterschiede und die Kraft der Freundschaft über Klassengrenzen hinweg.
Kästner war einer der ersten Autoren, der Kindergeschichten in der modernen Großstadt ansiedelte und soziale Ungleichheit thematisierte.
Die Konferenz der Tiere (1949)
Diese Fabel entstand unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs. Als die Menschen es nicht schaffen, Frieden zu stiften, berufen die Tiere eine internationale Konferenz ein, um die Zukunft der Erde und besonders die der Kinder zu sichern. Ein zeitloses Plädoyer für Frieden und Verständigung.
Das Buch ist ein Beispiel für Kästners Fähigkeit, komplexe politische Themen kindgerecht aufzubereiten, ohne sie zu verharmlosen.
Entdecken Sie Erich Kästners zeitlose Werke
Die Bücher von Erich Kästner begeistern auch heute noch Leser jeden Alters. Seine klare Sprache, sein Humor und seine zeitlosen Themen machen seine Werke zu unvergänglichen Klassikern der deutschen Literatur.
Kästners Einfluss auf die Kinderliteratur
Kästners Werke begeistern auch heute noch junge Leserinnen und Leser.
Erich Kästner revolutionierte die Kinderliteratur in mehrfacher Hinsicht. Vor ihm waren Kinderbücher oft von einer märchenhaften, weltfremden oder moralisierenden Atmosphäre geprägt. Kästner hingegen schuf realistische Geschichten, die in der Gegenwart spielten und die Lebenswirklichkeit von Kindern ernst nahmen.
Revolutionäre Neuerungen in der Kinderliteratur
Die moderne Großstadt als Schauplatz
Kästner verlegte seine Geschichten in die moderne Großstadt – vor allem Berlin – und zeigte Kinder, die sich selbstständig in diesem urbanen Umfeld bewegten. In «Emil und die Detektive» wird Berlin nicht nur zur Kulisse, sondern zu einem lebendigen Teil der Handlung. Die Kinder nutzen die Infrastruktur der Stadt – Straßenbahnen, Telefonzellen, Cafés – für ihre Detektivarbeit.
Kinder als handelnde Subjekte
In Kästners Büchern lösen Kinder ihre Probleme selbst, ohne dass Erwachsene eingreifen müssen. Sie organisieren sich, treffen Entscheidungen und übernehmen Verantwortung. Diese Darstellung von Kindern als kompetente, selbstständige Wesen war revolutionär und stärkte das Selbstbewusstsein junger Leser.
Soziale Themen und Klassenunterschiede
Kästner scheute sich nicht, soziale Ungleichheit und Klassenunterschiede in seinen Kinderbüchern zu thematisieren. In «Pünktchen und Anton» werden die Lebenswelten eines reichen und eines armen Kindes kontrastiert, ohne dabei in Klischees zu verfallen. Er zeigte, dass Freundschaft und Menschlichkeit wichtiger sind als soziale Herkunft.
Respektvoller Umgang mit jungen Lesern
Kästner sprach seine jungen Leser auf Augenhöhe an und nahm ihre Sorgen und Gefühle ernst. Er verzichtete auf übertriebene Verniedlichung oder Belehrung und vertraute auf die Intelligenz und das Urteilsvermögen der Kinder. Sein Erzählstil ist direkt, humorvoll und frei von Sentimentalität.
«Die Kinderbücher sollen nicht nur von den Kindern gelesen, sondern auch von den Erwachsenen mit Vergnügen und Nutzen gelesen werden können.»
Zeitlose Relevanz und Adaptionen
Kästners Werke haben bis heute nichts von ihrer Relevanz verloren. Seine Themen – Freundschaft, Mut, Gerechtigkeit, Zusammenhalt – sind zeitlos, und seine Figuren bleiben lebendig und identifikationsstiftend. Die klare, unprätentiöse Sprache macht seine Bücher auch für heutige Leser zugänglich.
Szene aus einer modernen Verfilmung von «Emil und die Detektive» (2001).
Zahlreiche Verfilmungen, Theateradaptionen und Hörspiele haben dazu beigetragen, Kästners Geschichten immer wieder neu zu interpretieren und einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Allein «Emil und die Detektive» wurde achtmal verfilmt, zuletzt 2001 mit Jürgen Vogel und Maria Schrader. «Das fliegende Klassenzimmer» erlebte 2023 seine vierte Verfilmung mit Tom Schilling und Hannah Herzsprung.
Kästners Einfluss reicht weit über Deutschland hinaus. Seine Bücher wurden in mehr als 60 Sprachen übersetzt und haben Generationen von Kindern weltweit begleitet. Sie gehören zum Kanon der Weltliteratur für Kinder und haben zahlreiche Autoren inspiriert, die in Kästners Tradition realistische, respektvolle und humorvolle Kinderliteratur schaffen.
Besuchen Sie das Erich Kästner Museum
In Dresden, der Geburtsstadt Erich Kästners, können Sie im Erich Kästner Museum mehr über das Leben und Werk des berühmten Schriftstellers erfahren. Die interaktive Ausstellung bietet spannende Einblicke für Besucher jeden Alters.
Das Vermächtnis eines zeitlosen Autors
Denkmal für Erich Kästner am Albertplatz in Dresden, nahe seinem Geburtshaus.
Erich Kästner hat ein literarisches Erbe hinterlassen, das bis heute lebendig ist. Seine Kinderbücher werden nach wie vor gelesen, seine Gedichte zitiert, seine Filme geschaut. Nach ihm sind in Deutschland 96 Straßen und mehr als 100 Schulen benannt, was seine anhaltende Bedeutung für die deutsche Kultur unterstreicht.
Was Kästner so besonders macht, ist die Verbindung von Unterhaltung und Tiefgang, von Humor und Ernst, von kindlicher Perspektive und erwachsener Weisheit. Er schrieb nie von oben herab, sondern stets auf Augenhöhe mit seinen Lesern – ob jung oder alt. Seine klare Sprache, sein unverwechselbarer Humor und sein humanistisches Weltbild machen ihn zu einem zeitlosen Autor, dessen Werk nichts von seiner Aktualität verloren hat.
Zum 100. Geburtstag Kästners im Jahr 1999 wurde die große Ausstellung «Die Zeit fährt Auto. Erich Kästner zum 100. Geburtstag» in Berlin und München gezeigt, die vom Deutschen Historischen Museum Berlin und dem Münchner Stadtmuseum gemeinsam erarbeitet wurde. Sie dokumentierte eindrucksvoll die Vielseitigkeit und Bedeutung dieses außergewöhnlichen Schriftstellers.
Erich Kästner bleibt ein Vorbild für Generationen von Autoren und ein geliebter Begleiter für Millionen von Lesern weltweit. Seine Botschaft von Menschlichkeit, Vernunft und Humor ist heute so wichtig wie eh und je.
«An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern.»
Entdecken Sie mehr über Erich Kästner
Tauchen Sie tiefer in die Welt von Erich Kästner ein und erfahren Sie mehr über sein Leben, seine Werke und sein bleibendes Erbe in der deutschen Literatur und Kultur.