Frühe Jahre und Aktivismus
Joschka Fischer während seiner Zeit als politischer Aktivist in den 1970er Jahren
Joseph Martin Fischer, genannt «Joschka», wurde am 12. April 1948 in Gerabronn in Baden-Württemberg geboren. Als Sohn einer ungarndeutschen Familie, die 1946 aus Budapest fliehen musste, erlebte er früh die Folgen politischer Umwälzungen. Seine Kindheit verbrachte er in bescheidenen Verhältnissen – sein Vater arbeitete als Metzger.
1965 verließ Fischer das Gymnasium ohne Abschluss und begann eine Fotografenlehre, die er jedoch bald abbrach. Nach dem Tod seines Vaters und seiner Schwester 1966 suchte der junge Fischer nach Orientierung. Diese fand er schließlich in der aufkommenden Studentenbewegung, obwohl er selbst nie studierte.
In der Frankfurter Sponti-Szene
Nach seinem Umzug nach Frankfurt am Main 1968 tauchte Fischer tief in die linksradikale Szene ein. Er besuchte Vorlesungen von Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas, ohne eingeschrieben zu sein, und setzte sich intensiv mit den Werken von Marx, Mao und Hegel auseinander. In dieser Zeit freundete er sich mit Daniel Cohn-Bendit an, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verbinden sollte.
«Ich habe erkannt, wie Gewalt die eigenen Gesichtszüge verzerrt, selbst wenn man meint, sie aus guten Gründen einsetzen zu können.»
Als Mitglied der militanten Gruppe «Revolutionärer Kampf» (RK) beteiligte sich Fischer an Demonstrationen und Straßenschlachten. Besonders bekannt wurde ein Foto aus dem Jahr 1973, das ihn bei einem Angriff auf einen Polizisten zeigt – ein Bild, das ihn später in seiner politischen Karriere einholen sollte.
Politische Transformation
Der sogenannte «Deutsche Herbst» 1977 mit der Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer durch die RAF markierte für Fischer einen Wendepunkt. Er beschrieb diesen Prozess später als «Illusionsverlust» und wandte sich von radikalen politischen Gruppierungen ab.

Fischer bei seiner Vereidigung als hessischer Umweltminister 1985 in Turnschuhen
Eintritt in die Grünen
1982 trat Fischer der noch jungen Partei «Die Grünen» bei. Bereits ein Jahr später zog er über die hessische Landesliste in den Bundestag ein und wurde Parlamentarischer Geschäftsführer der ersten grünen Bundestagsfraktion. Er machte sich schnell einen Namen als provokanter Redner, der auch vor Konfrontationen nicht zurückschreckte – berühmt wurde sein Ausspruch «Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch» an den Bundestagsvizepräsidenten Richard Stücklen.
Fischers politischer Aufstieg setzte sich fort, als er 1985 zum hessischen Staatsminister für Umwelt und Energie ernannt wurde – das erste grüne Kabinettsmitglied in Deutschland. Seine Vereidigung in Turnschuhen, Jeans und Sportsakko sorgte bundesweit für Aufsehen und prägte das Bild der frühen Grünen nachhaltig.
Vom Realo-Flügel zur Realpolitik
Innerhalb der Grünen positionierte sich Fischer als führender Vertreter des «realpolitischen» Flügels, der für pragmatische Kompromisse und Regierungsbeteiligungen eintrat. Diese Haltung stand im Kontrast zu den «Fundis», die eine Anpassung an das politische System ablehnten.
Nach einer zweiten Amtszeit als hessischer Umweltminister (1991-1994) kehrte Fischer in den Bundestag zurück und wurde Fraktionssprecher von Bündnis 90/Die Grünen. In dieser Position bereitete er die Partei auf eine mögliche Regierungsbeteiligung auf Bundesebene vor.
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Als Bundesaußenminister

Bundesaußenminister Joschka Fischer im NATO-Hauptquartier, 1998
Nach der Bundestagswahl 1998 bildeten SPD und Bündnis 90/Die Grünen die erste rot-grüne Koalition auf Bundesebene. Fischer wurde am 27. Oktober 1998 als Außenminister und Vizekanzler unter Bundeskanzler Gerhard Schröder vereidigt – ein historischer Moment für die einstige Protestpartei.
Kosovo-Konflikt und die Frage des Krieges
Bereits wenige Monate nach Amtsantritt stand Fischer vor einer schwierigen Entscheidung: Die NATO plante militärische Interventionen im Kosovo-Konflikt. Für die pazifistisch geprägte Partei der Grünen stellte dies eine Zerreißprobe dar. Fischer rechtfertigte seine Unterstützung für den Einsatz mit den Worten: «Ich habe nicht nur gelernt: Nie wieder Krieg. Ich habe auch gelernt: Nie wieder Auschwitz.»
Auf einem Sonderparteitag in Bielefeld im Mai 1999 wurde Fischer von einem Farbbeutel getroffen und erlitt einen Trommelfellriss. Trotz heftiger interner Kritik gelang es ihm, eine Mehrheit der Partei hinter dem Kosovo-Einsatz zu versammeln.

Fischer nach dem Farbbeutelwurf auf dem Grünen-Parteitag in Bielefeld 1999
Internationale Diplomatie
Als Außenminister setzte sich Fischer für die europäische Integration und die EU-Osterweiterung ein. Im Jahr 2000 hielt er seine berühmte «Humboldt-Rede», in der er seine Vision einer föderalen Europäischen Union darlegte. Er pflegte enge Beziehungen zu Frankreich und bemühte sich um einen konstruktiven Dialog mit Russland.
Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 unterstützte Fischer den Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan. Beim Irakkrieg 2003 hingegen vertrat er gemeinsam mit Schröder eine klare Antikriegsposition. Sein Ausspruch «I am not convinced» gegenüber US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld auf der Münchner Sicherheitskonferenz wurde zum Symbol der deutsch-amerikanischen Spannungen in dieser Zeit.
Politisches Erbe und Leben nach der Politik

Joschka Fischer bei der Vorstellung seines Buches «Scheitert Europa?» in Berlin, 2014
Nach dem Ende der rot-grünen Koalition 2005 zog sich Fischer schrittweise aus der aktiven Politik zurück. Im September 2006 legte er sein Bundestagsmandat nieder. Seitdem ist er als Berater, Gastprofessor und Autor tätig.
Berater und Autor
2006 übernahm Fischer eine Gastprofessur an der Princeton University. 2007 gründete er seine Beratungsfirma «Joschka Fischer Consulting» und wurde Mitbegründer des «European Council on Foreign Relations». Als Berater arbeitete er unter anderem für die Energiekonzerne RWE und OMV beim Nabucco-Pipeline-Projekt sowie für BMW und Siemens.
Als Autor veröffentlichte Fischer zahlreiche Bücher zu außenpolitischen Themen, darunter «Die Rückkehr der Geschichte» (2005), «Die rot-grünen Jahre» (2007), «Scheitert Europa?» (2014) und «Der Abstieg des Westens» (2018).

Wahlplakat Bündnis 90/Die Grünen «Außen Minister, innen grün»
Historische Bedeutung
Joschka Fischers politische Karriere steht exemplarisch für den Weg der 68er-Generation und der Grünen vom Protest zur Regierungsverantwortung. Als Außenminister prägte er die deutsche Außenpolitik in einer Zeit globaler Umbrüche und trug maßgeblich zur Positionierung Deutschlands als selbstbewusster, aber verantwortungsvoller Akteur in der internationalen Politik bei.
Seine Unterstützung für militärische Interventionen aus humanitären Gründen markierte einen Wendepunkt in der deutschen Nachkriegspolitik und führte zu einer Neuausrichtung der Grünen in sicherheitspolitischen Fragen. Gleichzeitig blieb er seinen Grundüberzeugungen treu, wie sein Widerstand gegen den Irakkrieg zeigte.
Wichtige Stationen
- 1948: Geboren in Gerabronn, Baden-Württemberg
- 1968-1975: Aktivist in der Frankfurter Sponti-Szene
- 1982: Eintritt in die Partei Die Grünen
- 1983-1985: Erster Einzug in den Bundestag
- 1985-1987: Hessischer Umweltminister
- 1991-1994: Erneut hessischer Umweltminister
- 1994-1998: Fraktionssprecher im Bundestag
- 1998-2005: Bundesaußenminister und Vizekanzler
- 2006: Rückzug aus der aktiven Politik
Auszeichnungen
- 2002: Ehrendoktorwürde der Universität Haifa
- 2003: Buber-Rosenzweig-Medaille
- 2004: Gottlieb-Duttweiler-Preis
- 2005: Leo-Baeck-Preis des Zentralrats der Juden
- 2006: Ehrendoktorwürde der Universität Tel Aviv
- 2009: Deutscher Nachhaltigkeitspreis (Ehrenpreis)
- 2010: Heinrich-Heine-Gastprofessur
- 2016: Bayerische Europa-Medaille
Zitate und Kontroversen
«Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch.»
«Ich habe nicht nur gelernt: Nie wieder Krieg. Ich habe auch gelernt: Nie wieder Auschwitz.»
«Excuse me, I am not convinced.»
Kontroversen
Militante Vergangenheit
Die Veröffentlichung von Fotos aus seiner Zeit als Straßenkämpfer im Jahr 2001 führte zu heftigen Debatten über Fischers Vergangenheit. Er bekannte sich zu seiner Beteiligung an gewaltsamen Demonstrationen, bestritt jedoch, Molotowcocktails geworfen zu haben.
Visa-Affäre
2005 geriet Fischer wegen der sogenannten «Visa-Affäre» unter Druck. Ihm wurde vorgeworfen, durch eine Liberalisierung der Visa-Vergabe in osteuropäischen Ländern indirekt Schleuserkriminalität gefördert zu haben. Fischer übernahm die politische Verantwortung, trat jedoch nicht zurück.
Wichtige Veröffentlichungen
Frühe Werke
- «Von grüner Kraft und Herrlichkeit» (1984)
- «Der Ausstieg aus der Atomenergie ist machbar» (1987)
- «Regieren geht über Studieren» (1987)
Politische Analysen
- «Risiko Deutschland» (1994)
- «Für einen neuen Gesellschaftsvertrag» (1998)
- «Die Rückkehr der Geschichte» (2005)
Neuere Werke
- «Scheitert Europa?» (2014)
- «Der Abstieg des Westens» (2018)
- «Willkommen im 21. Jahrhundert» (2020)

Joschka Fischer bei einer Lesung aus seinem Buch «Der Abstieg des Westens»
Persönliches Leben
Joschka Fischer war fünfmal verheiratet. Aus seiner zweiten Ehe mit Inge Peusquens stammen ein Sohn (geboren 1979) und eine Tochter (geboren 1983). Seit 2005 ist er mit der deutsch-iranischen Filmproduzentin Minu Barati verheiratet.
Neben seiner politischen Karriere wurde Fischer auch für seine persönliche Transformation bekannt. Ende der 1990er Jahre nahm er durch eine radikale Ernährungsumstellung und intensives Lauftraining über 30 Kilogramm ab. 1999 nahm er am New York-Marathon teil und bewältigte die Strecke in 3 Stunden und 45 Minuten.
Seit seinem Rückzug aus der Politik lebt Fischer in Berlin-Grunewald. Er ist bekennender Fan von Eintracht Frankfurt.

Joschka Fischer beim New York Marathon 1999
Einfluss auf die deutsche Politik
Positive Bewertungen
- Modernisierung der deutschen Außenpolitik
- Stärkung der europäischen Integration
- Erfolgreiche Vermittlung im Nahost-Konflikt
- Transformation der Grünen zu einer regierungsfähigen Partei
- Standhaftigkeit gegen den Irakkrieg
Kritische Stimmen
- Abkehr von pazifistischen Grundsätzen
- Zu starke Anpassung an das politische System
- Widersprüche zwischen früheren Positionen und Regierungshandeln
- Umstrittene Tätigkeiten als Berater nach der politischen Karriere
- Visa-Affäre und mangelnde Kontrolle im Auswärtigen Amt

Joschka Fischer am Rednerpult des alten Plenarsaals in Bonn, 1983
Bedeutung für die Grünen
Fischer prägte die Entwicklung der Grünen maßgeblich und trug entscheidend dazu bei, sie von einer Protestpartei zu einer regierungsfähigen politischen Kraft zu transformieren. Sein pragmatischer Ansatz, der auf Kompromisse und schrittweise Veränderungen setzte, hat die strategische Ausrichtung der Partei nachhaltig beeinflusst.
Auch nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik bleibt Fischer eine wichtige Referenzfigur für die Grünen. Seine Positionen zur Außen- und Sicherheitspolitik haben den Weg für die heutige Ausrichtung der Partei geebnet, die militärische Interventionen aus humanitären Gründen unter bestimmten Bedingungen befürwortet.Joschka Fischers Lebensweg vom Straßenkämpfer zum Außenminister spiegelt die Entwicklung der deutschen Nachkriegsgesellschaft wider. Seine Fähigkeit zur Selbstreflexion und Veränderung, aber auch sein Festhalten an grundlegenden Überzeugungen haben ihn zu einer der faszinierendsten politischen Persönlichkeiten Deutschlands gemacht.
Fischers politisches Erbe ist vielschichtig und teilweise widersprüchlich – wie der Mann selbst. Seine Wandlung vom Systemkritiker zum Staatsmann zeigt jedoch, dass politische Entwicklung möglich ist und dass die Integration ehemaliger Außenseiter die Demokratie bereichern kann.

Joschka Fischer bei einer Rede zur Zukunft Europas, 2018